Thüringer Bachwochen

Mit Bach in den Frühling

Barock-Fans, die auf der Suche nach bedeutsamen Bach-Schauplätzen sind, werden in Thüringen schnell fündig: In keinem Bundesland wirkte der Komponist an so vielen Orten, die noch heute begeh- und bespielbar sind und für Bach auch persönlich von so großer Wichtigkeit waren. Die Thüringer Bachwochen ermöglichen deshalb mit ihrer Vielfalt an Veranstaltungen in Weimar, Erfurt, Mühlhausen, Arnstadt sowie zahlreichen weiteren Lebensstationen Bachs einen ganz besonders authentischen Einblick in dessen Schaffen. Vom 3. bis 26. April 2020 öffnet das Festival erneut seine Pforten – dieses Mal unter dem Motto „Play Bach!“. Die Losung umschreibt die musikalische Bandbreite der Thüringer Bachwochen und damit den spielerischen Umgang mit Bachs Werken. In Improvisationen, neuen Kompositionen, Verknüpfungen mit Werken anderer Kompositionen oder Genrewechseln hin zu Tanz- und Schauspiel-Stücken bieten diese Auseinandersetzungen mit der barocken Musik Bachs neue Einblicke und Hörerfahrungen.

Bereits der Eröffnungstag des Festivals macht diesen spielerischen Spagat im Festivalprogramm hörbar: Eröffnet wird das Festival 2020 mit einer Aufführung der Johannespassion durch das renommierte Ensemble The English Concert in der Bachkirche zu Arnstadt, in der Johann Sebastian Bach seine erste Anstellung als Organist hatte. Der Ort gehört zu den schönsten und wichtigsten Bachorten Thüringens. Der Johannespassion steht ein gemeinsamer Auftritt des israelischen Mandolinisten Avi Avital mit dem Jazz-Pianisten Omer Klein gegenüber. Im Erfurter Zughafen werden sie Bachs „Chaconne“ aus der Violin-Partita Nr. 2 d-Moll zum Ausgangspunkt von Improvisationen über Bachs Musik machen.

Noch außergewöhnlicher ist ein Projekt, das schon lange Wunsch der Festivalmacher ist. Denn die Thüringer Bachwochen lassen einen beinahe mythischen Bachort wiederauferstehen, der nicht mehr existiert. In einem ambitionierten Projekt gemeinsam mit Wissenschaftlern der Technischen Universität Berlin und der Fachhochschule Erfurt wird die „Himmelsburg“, die 1774 zerstörte Weimarer Schlosskapelle, als virtual reality-Rekonstruktion erstmals wieder visuell und akustisch zu erleben sein. „In enger Kooperation mit der Thüringer Tourismus GmbH wird die Rekonstruktion nach ihrer Premiere in Weimar im Jahresverlauf 2020 noch bei einer Reihe weiterer Bach-Festivals im In- und Ausland zu erleben sein.“

In vergleichbarer Dramaturgie wie zur Eröffnung werden auch am Karfreitag zwei besondere Gastspiele miteinander kombiniert: Zur Sterbestunde Jesu wird zunächst das tschechische Ensemble Collegium 1704 unter Leitung von Vaclav Luks ein Miserere-Programm am Taufstein Bachs in Eisenach aufführen. Am Abend tritt dann eines der führenden Ensembles in der israelischen Tanzszene im Meininger Staatstheater auf. Die Tänzerinnen und Tänzer der Kamea Dance Company zeigen mit „Matthäus-Passion-2727“ ihre ebenso ergreifende wie polarisierende Auseinandersetzung mit diesem opus magnum Bachs – live begleitet von dem Barockorchester l’arte del mondo und dem Bonner Chor Vox Bona.

Mut zur kreativen Auseinandersetzung mit Bachs Werk beweist auch der englische Organist William Whitehead, der in Arnstadt sein „Orgelbüchlein“-Projekt vorstellen wird. Er hat sich über die letzten Jahre mit dem Orgelbüchlein befasst, das zu einem Teil aus leeren Seiten besteht: Bach hat die Sammlung choralgebundener Orgelstücke nie abgeschlossen, obgleich die Partitur in den Überschriften schon angelegt war. Diese vorhandene Struktur hat Whitehead genutzt, um Komponisten aus aller Welt zu einer Vervollständigung einzuladen. Inzwischen ist das Orgelbüchlein komplettiert, neben den Werken Bachs enthält es etwa Stücke von Enjott Schneider, Jon Laukvik, Thomas-Organist Ullrich Böhme oder Roderick Williams. Eine Auswahl des umfangreichen Zyklus wird Whitehead zusammen mit seinem Kollegen Tom Bell an den Orgeln von Bachkirche und Liebfrauenkirche Arnstadt vorstellen.

Zu den namhaften Interpreten mit langer freundschaftlicher Verbindung zu den Thüringer Bachwochen 2020 gehören zweifelsohne der Titular-Organist von Notre-Dame de Paris, Olivier Latry, und der Bariton Christoph Prégardien. Latry wird 2020 erstmals in Waltershausen zu Gast sein und an der Trost-Orgel der Stadtkirche musizieren; Prégardien tritt in Weimar zusammen mit dem Ensemble Le Concert Lorrain und der Violinistin Leyla Schayegh auf. Ein Wiederhören gibt es zudem mit der Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann, die nach ihrer berührenden Pilgerfahrt ins Bachland im Herbst 2019 nun nach Mühlhausen kommen, um dort frühe Kantaten Bachs aufzuführen. Mit Daniel Hopekommt einer der prominentesten Vertreter der Klassik ein weiteres Mal nach Thüringen. Mit einem virtuosen Kammermusik-Programm schlägt er eine Brücke zu Mendelssohn und Schostakowitsch, zwei intensiv von Bach geprägten Komponisten. Noch weiter gefächert ist das Programm des französischen Pianisten David Kadouch. Er wird in seinem Recital fast 300 Jahre Musikgeschichte umreißen und dabei auch die einzige Reverenz der Bachwochen an das große Beethoven-Jubiläumsjahr präsentieren. Drei junge Solisten stehen schließlich im Mittelpunkt der Tonali Tour, die als Schulprojekt der Bachwochen bereits zu Jahresbeginn 2020 startet und mit einem großen Abschlusskonzert in Gotha endet.

Die im Festivalprogramm traditionell stark verankerten sakralen Programme werden 2020 unter anderem von Amarcord und der lautten compagney BERLIN, vom Violinisten und Countertenor Dmitry Sinkovsky und dem Händelfestspielorchester gemeinsam mit dem Kammerchor der Hallenser Universität geprägt. In einer Kooperation mit den Telemann-Festtagen Magdeburg stellt Jens Lorenz mit den Hallenser Ensembles einige von Telemanns Kantaten aus dem Zyklus „Geistliches Singen und Spielen“ vor, die 1710 in Eisenach erstaufgeführt wurden und nun erneut zu erleben sind.

Unter den internationalen Stars der historischen Aufführungspraxis sind auch der englische Kammerchor Tenebrae, der am Ostersonntag in der Stadtkirche Jena gastiert, sowie das belgische Ensemble Vox Luminis hervorzuheben. Die Musiker*innen um ihren Leiter Lionel Meunier haben mit einem mehrjährigen Projekt der Einspielung des großen „Florilegium Portense“-Zyklus begonnen – und bieten für die Bachwochen einen guten Grund, einmal über die Landesgrenze hinweg in Schulpforte bei Naumburg zu gastieren.

Unter den zeitgenössischen Komponist*innen, die sich mit Bach auseinandergesetzt haben, nimmt Caroline Shaw einen besonderen Platz ein. Die junge Amerikanerin war 2013 die jüngste Gewinnerin eines Pulitzer-Preises, den sie für das Bach inspirierte Werk Partita erhalten hat. 2019 hat sie ihren Streichquartett-Zyklus Orange vorgelegt, der unter anderem einen Bach-Choral zitiert. Das mitreißende Werk ist in Erfurt in der Interpretation des Attacca Quartet aus New York zu erleben. Weitere moderne Annäherungen an die Musik von Bach und seinen Zeitgenossen bieten etwa die Auftritte des Jazztrios von Dieter Ilg in Eisenach, der Sopranistin Nora Fischer mit ihrem Barock-Singer/Songwriter-Programm „Hush“ in Erfurt sowie der Film „Lebenslicht“ von Clara Pons, für den Philippe Herreweghe ein Pasticcio aus Bach-Musik zusammengestellt und aufgenommen hat. Im Rahmen eines Galakonzertes am 1. Mai wird schließlich der Organist Cameron Carpenter seine Transkription der Goldberg-Variationen in Weimar vorstellen.

Noch in einer früheren Phase seiner vielversprechenden Karriere befindet sich unterdessen Thomas Dunford, der bei den Thüringer Bachwochen 2020 als artist in residence gleich mehrere Konzerte geben wird. Der Lautenist Dunford steht gleichermaßen exemplarisch für eine junge Generation herausragender Musiker, die von den Elite-Hochschulen etwa in Basel und Utrecht kommend früh internationale Netzwerke gebildet und durch spektakuläre Projekte auf sich aufmerksam gemacht haben. Am Osterwochenende 2020 ist Dunford in Thüringen in drei Konzerten in ganz unterschiedlichen Formationen zu erleben.

Auch weitere Gastspiele beweisen, dass die junge „Generation Bach“ bei den Thüringer Bachwochen prominente Podien findet. So gibt es Festivaldebüts der US-amerikanischen Violinistin Elicia Silverstein, der russischen Cembalistin Olga Pashchenko sowie der französischen Gambistin Lucile Boulanger. In diese Reihe gehört auch der Cellist Steuart Pincombe, der in seinen Konzerten mit unterschiedlichen Formaten experimentiert und die Nähe zum Publikum sucht: Von Angesicht zu Angesicht bietet er seinen Zuhörern die Möglichkeit, die populären Bach-Suiten ganz direkt zu erleben.

Dass trotz der rasanten Entwicklung der Alte-Musik-Szene in den letzten Jahren noch immer Raum für Entwicklung ist, soll schließlich das Abschlusskonzert der Bachwochen 2020 beweisen: Mit WeimarBaroque gibt dann ein neues Ensemble sein Debütkonzert, das sich gleichermaßen der Forschung wie der historisch korrekten Aufführung Bachscher Werke verschrieben hat. Die Musikerinnen und Musiker des Ensembles sind etablierte Hochschul-lehrer und Konzertmusiker, die sich gemeinsam mit dem Naumburger Wenzelsorganisten Hans Christian Martinauf die Suche machen, der endgültigen Interpretation Bachs näher zu kommen. Dies unterstützen die Thüringer Bachwochen gern – und bieten mit dem Erfurter Dom St. Marien dafür einen prominenten Rahmen und einen feierlichen Abschluss.

Komplettiert wird der Kalender der Thüringer Bachwochen auch in seiner kommenden Ausgabe durch die Konzerte und Kantaten-Gottesdienste der regionalen Partner. Die Veranstaltungen innerhalb der „Bachland Thüringen“-Reihe schließen etwa Passionsaufführungen in Eisenach, Erfurt und erstmals Rudolstadt ein, auch das Orchester des Meininger Staatstheaters beteiligt sich am Festival. Und in Erfurt wird Bach zum ersten Mal auch auf dem Carrillon des Bartholomäusturmes am Anger musiziert.

Bleiben schließlich zwei Projekte, die das Programm der Bachwochen über die originäre Reihe von Konzerten hinaus wachsen lassen und für Aufmerksamkeit sorgen dürften:

Bereits im März 2020 wird in Erfurt der „Bach Store“ aus New York eröffnen – ein Projekt des amerikanischen Pianisten Evan Shinners. Sein pop-up Store richtet sich an zufällige Passanten, denen er sechs Stunden täglich Bachs Musik bietet, musizierend und im direkten Dialog auch in abendlichen Veranstaltungen. Die Premiere im vergangenen Jahr wurde mit einem Portrait in der New York Times gewürdigt, nun reist Shinners mit seinem Bach Store ins Bachland Thüringen.

Langfristig konzipiert ist ein neues Stipendium: das Glenn Gould Bach Fellowship, das künftig alle zwei Jahre von der Stadt Weimar gemeinsam mit den Bachwochen verliehen werden soll. Ermöglicht durch die Loubser Foundation richtet es sich an Musikerinnen und Musiker, die Bachs Werke auf neuen medialen Wegen vermitteln wollen; eine Referenz an Johann Sebastian Bach wie dessen einzigartigen Interpreten Glenn Gould, die beide auf ihre Art nicht nur an Musik, sondern auch an technischer Innovation Interesse hatten. Als Founding Fellow ist dabei der irische Pianist Peter Tuite zu erleben, der sich bereits seit längerer Zeit mit einer filmischen Umsetzung von Bachs Goldberg-Variationen beschäftigt.

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