VÖ am 21.08.2020
Schumann neu entdeckt
Mit der Einspielung von Schumanns Frühlingssinfonie und der Urfassung seiner d-Moll-Sinfonie wirft François-Xavier Roth ein neues Licht auf die lange Schumann-Tradition des Gürzenich-Orchesters. Es ist die erste Zusammenarbeit mit dem Kölner Label myrios.
Altbekannten Werken eine neue, bis dahin unerhörte Perspektive zu verleihen, ist wohl François-Xavier Roths Markenzeichen. Seit er vor fünf Jahren die Leitung des Gürzenich-Orchesters Köln übernahm, wird sein innovativer Ansatz weit über die Domstadt hinaus gefeiert. Nach ersten gemeinsamen Aufnahmen der Mahler-Sinfonien, die bei Kritikern hohes Aufsehen erregten, geht es am 21. August mit Schumann weiter. Wieder einmal stellt Roth hier seine Fähigkeit, aus bekannten Werken etwas völlig Neues herauszuholen, unter Beweis: Obgleich das Gürzenich-Orchester eine lange Schumann-Tradition pflegt, legen Roth und das Orchester mit der Einspielung von Schumanns Frühlingssinfonie und der Urfassung seiner d-Moll-Sinfonie auf myrios eine völlig neuartige Interpretation vor. Der differenzierte, transparente Klang der Aufnahme ist Zeugnis der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Dirigent und Orchester.
Schumanns “Symphonische Fantasie”, die später zur Sinfonie in d-Moll werden sollte, war ein Wagnis: die Fantasie folgt statt der traditionellen viersätzigen Form einer offenen, sich fortlaufend weiterentwickelnden Struktur. Mit ihrem radikalen Formkonzept und der minimalen Instrumentierung stieß sie allerdings bei der Uraufführung 1841 auf Unverständnis. Nach der wenig herzlichen Reaktion des Publikums entschied sich Schumann, das Werk grundlegend zu überarbeiten und veröffentlichte es schließlich als seine “Vierte Sinfonie”. Die Urfassung von 1841 wurde erst knapp 50 Jahre später wieder zur Aufführung gebracht – von keinem anderen als dem Gürzenich-Orchester unter der Leitung von Franz Wüllner. Auch François-Xavier Roth gibt der Urfassung den Vorzug. In ihrer kargeren Instrumentierung sei sie die „radikalere“ Fassung, die deshalb vom Orchester auch eine größere Hingabe verlange, so Roth.
Der Sinfonie in d-Moll vorangestellt ist Schumanns erste Sinfonie. „Ich schrieb die Sinfonie, wenn ich sagen darf, in jenem Frühlingsdrang, der den Menschen wohl bis in das höchste Alter hinreißt und in jedem Jahr von neuem überfällt”, schreibt er 1842. Entstanden kurz nach der Hochzeit mit Clara Wieck, ist die Frühlingssinfonie ein leuchtendes Sinnbild der Lebensbejahung. Und doch zieht sich eine Sehnsucht durch das im tiefsten Winter geschriebene Werk: nach dem Frühling, nach neuem Wachstum und nach neuem Leben. Mit der Einspielung dieser beiden Werke von 1841 verdeutlichen François-Xavier Roth und das Gürzenich-Orchester einmal mehr die außergewöhnliche Qualität ihrer Zusammenarbeit: die musikalische Innovation, die dem Orchester zugrunde liegt, und ihr differenzierter, dynamischer Klang treten in den Live-Aufnahmen deutlich zutage. Schumanns Sinfonien Nr. 2 & 3 werden voraussichtlich 2022 folgen.
François-Xavier Roth und das Gürzenich-Orchester
Seit 2015 leitet der charismatische Franzose die musikalischen Geschicke des Gürzenich-Orchesters und der Oper Köln. Erst im Mai gab er die Verlängerung seines Vertrags bekannt und wird nun bis mindestens 2025 den Titel des Gürzenich-Kapellmeisters tragen. Neben einer innovativen Programmgestaltung, international beachteten Uraufführungen und beeindrucken-den Opernproduktionen stehen genreübergreifende Partnerschaften und die Entwicklung verschiedener Audience-Development-Programme wie der Gründung des Kölner Bürger-orchesters im Zentrum der Orchesterarbeit. Erste Aufnahmen der Mahler-Symphonien mit dem Gürzenich-Orchester erhielten nationales Kritikerlob. In Anerkennung seiner musikalischen Leistungen in Köln und mit dem französischen Ensemble Les Siècles wurde Roth erst kürzlich der Ehrenpreis der deutschen Schallplattenkritik zugesprochen.
Gürzenich-Orchester Köln
François-Xavier Roth, Dirigent
VÖ am 21.08.2020 bei myrios
Robert Schumann:
Sinfonie Nr. 1 in B-Dur, Op. 38 “Frühlingssinfonie”
Sinfonie Nr. 4 in d-Moll, Op. 120 (Urfassung von 1841, bearbeitet von Jon Finson)
Vorschaubild © Hartmut Nägele / Gürzenich-Orchester Köln