Licht, bis in den letzten Winkel

Am 9., 16., 23. und 30. Oktober 2022 präsentiert Alondra de la Parra bei den Tutzinger Brahmstagen gemeinsam mit den Münchner Symphonikern alle Symphonien von Johannes Brahms – und offenbart dabei den zutiefst persönlichen Charakter der Werke. Die Deutsche Welle begleitet das Projekt.

In Tutzing am Starnberger See, vor der beeindruckenden Kulisse des Karwendelgebirges, komponierte Johannes Brahms 1873 unter anderem seine berühmten Haydn-Variationen. Seit mittlerweile 25 Jahren finden hier in Gedenken an jenen Sommer die Tutzinger Brahmstage statt, deren Jubiläum nun groß gefeiert wird: An vier Sonntagen im Oktober dirigiert Alondra de la Parra die Münchner Symphoniker in einem Zyklus aus allen Brahms-Symphonien. Die mexikanische Dirigentin freut sich über die Gelegenheit, einen der für sie einflussreichsten Komponisten im Detail zu beleuchten: Brahms sei in der Vergangenheit oft ein wenig einseitig dargestellt worden, so de la Parra. Dabei sei er ein offenes Buch gewesen.

„Alles, was Sie über Johannes Brahms wissen möchten, steht in seinen vier Symphonien“, erklärt Alondra de la Parra. „Brahms sagte häufig, er verfolge mit seiner Musik kein bestimmtes Programm oder Narrativ; Musik sei Musik und nichts weiter – anders als beispielsweise Wagner, der ganz offensichtlich den gegenteiligen Ansatz vertrat. Ich würde Brahms aus heutiger Sicht allerdings klar widersprechen: Seine Kompositionen hatten sehr wohl einen programmatischen Inhalt, und dieser war Johannes Brahms selbst. In den Symphonien zeigt sich Brahms’ Auseinandersetzung mit dem Leben, mit der Liebe und mit der Welt, in der er lebte. In der Musik durchläuft man das gesamte Spektrum seines Denkens und Fühlens.“ Das sei  ungewöhnlich, betont de la Parra:

 

„Andere Komponist*innen zeigen nur sehr ausgewählte Facetten ihrer Persönlichkeit. Brahms hingegen erschafft ein ganzes Kaleidoskop: Er lässt Licht in jeden Winkel fallen, sei er noch so privat.“

 

„Ich denke da beispielsweise an die rapiden Stimmungswechsel, die einige seiner Werke ausmachen. Es gibt unter anderem Passagen in der Symphonie Nr. 3, in denen er auf nur zwei Notenblättern bis zu sechs kontrastierende musikalische und emotionale Profile unterbringt. Als liefen dort sechs verschiedene Filme direkt hintereinander ab. Ein solch rasantes Ausloten neuer Richtungen auf so wenig Raum hat es vor Brahms kaum gegeben.“ Die eigene Gefühlswelt kompromisslos in der Musik abzubilden sei erst mit Komponist*innen wie Mahler endgültig in den Vordergrund gerückt, so Alondra de la Parra. Brahms sei seiner Zeit weit voraus gewesen. Obwohl er das geltende Regelwerk stets respektiert habe, sei seine Musik Zeugnis eines überaus progressiven Geists, der alte Formen völlig neu umgedeutet und Grenzen fortwährend überschritten habe.

„Es ist so beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit Brahms der Schwerkraft trotzte“, bemerkt de la Parra. „Immer wieder setzte er sich über die natürlichen rhythmischen Schwerpunkte der gängigen Taktarten hinweg, mit erstaunlichen Ergebnissen. Wo Nachfolger*innen wie Strawinsky oder Prokofjew erst lange Zeit später einzelne Takte nach Belieben um Zählzeiten kürzten oder erweiterten, erzielte Brahms durch klug gesetzte Akzente ähnliche Effekte. Er streckte zum Beispiel vereinzelte Sechserrhythmen über mehrere Vierertakte, ohne den Taktstrich zu verschieben. Auf diese Weise brachte er neue rhythmische Ideen ein und wahrte zugleich die gesellschaftlich akzeptierte Formsprache seiner Zeit. Er hatte verstanden, dass das menschliche Leben nur selten in einen sauberen Viervierteltakt passt.“

Nicht nur im rhythmischen Bereich wird Brahms’ Innovationsgeist sichtbar; er entwickelte darüber hinaus ganz neue Farben für die klassische Musik. Das erkenne man unter anderem an der Instrumentierung. „Brahms komponierte zum Beispiel ein Quartett für drei Hörner und Kontrabass. Eine Klangfarbe in dieser Zusammenstellung existierte bis zu diesem Moment noch gar nicht.“

Musik und Begegnung, damals und heute

Brahms’ Suche nach neuen musikalischen Perspektiven stellte die Weichen für eine enge Freundschaft mit Antonín Dvořák, die er bis ans Ende seines Lebens pflegte. Alondra de la Parra kann sich keine passendere Ergänzung für den Brahms-Zyklus vorstellen, in der an jedem Abend eine Brahms-Symphonie an der Seite einer Dvořák-Symphonie gespielt wird. „Brahms war Dvořáks prominentester Fürsprecher. Wer damals nicht aus Deutschland oder Österreich stammte, war einer heftigen Diskriminierung ausgesetzt. Dvořáks größter Wunsch war es jedoch, vom Wiener Establishment akzeptiert zu werden. Einer der wenigen, die ihn dort ernstnahmen, war Brahms, der Dvořáks besonderes Talent sofort erkannte und förderte. Hierfür, vor allem aber für seine Musik verehrte Dvořák Brahms zutiefst. Es hätte ihn sicher sehr gefreut, dass seine Werke heute in einem Brahms-Zyklus zu hören sind.“

Ihre eigene musikalische Zusammenkunft mit den Münchner Symphonikern beschreibt Alondra de la Parra als eine überaus bereichernde Begegnung. „Ich bin dem Orchester sehr dankbar für die Gelegenheit, ein so großes Projekt zu verwirklichen, in dem wir die Musik einen ganzen Monat lang gemeinsam erarbeiten. Das ist vor allem bei einem Komponisten wie Brahms ein echter Vorteil, da man in seiner Musik besonders genau auf die Details schauen muss. In dieser intensiven Zusammenarbeit sehe ich ein wichtiges Arbeitsmodell für die Zukunft des Dirigent*innenberufs: Dieser Job hat so viel mehr Bedeutung, wenn wir über längere Zeiträume hinweg mit Orchestern zusammenwachsen und zu echten Teams werden können, anstatt gehetzt durch die Welt zu fliegen.“ Auch das Timing sei ideal: „Da wir dieses Jahr Brahms’ 125. Todestag begangen haben und die Brahmstage ihr 25. Jubiläum feiern, fühlt sich der Zeitpunkt der Aufführungen absolut stimmig an.“

Klare Konturen, 1999–2022

Wer den Stellenwert von Brahms’ Musik in der bisherigen Laufbahn Alondra de la Parras erfassen möchte, muss ihr in das Buenos Aires des späten 20. Jahrhunderts folgen. 1999 steht die 19-jährige Alondra hier zum ersten Mal als Dirigentin auf der großen Bühne. Im rotsamtenen Saal des Teatro Colón bietet Mentor Charles Dutoit ihr die Möglichkeit, erstmals vor großem Publikum ein professionelles Orchester zu leiten. Sie dirigiert Brahms’ Haydn-Variationen, die für Alondra unmittelbar zum absoluten Schlüsselrepertoire werden. Bei diesem Berührungspunkt soll es aber nicht bleiben; mit Kurt Masur arbeitet de la Parra bald erneut unter anderem an den Variationen. Stück für Stück nähert sich Alondra de la Parra dem einzigartigen musikalischen Vermächtnis des großen Komponisten, beginnt, die Konturen des Menschen hinter der Musik zu erkennen. Ein weiterer Höhepunkt folgt mit einer Einladung nach Venezuela: Direkt nach ihrer Ankunft stellt Gastgeber José Antonio Abreu der jungen Dirigentin Sir Simon Rattle vor, dem sie assistieren soll.

Rattle fragt unvermittelt, ob sie mit Brahms’ dritter Symphonie vertraut sei. Alondra verneint, sie kenne die Symphonien 1, 2 und 4 besser. Rattle bemerkt trocken: „Nun, Sie werden die dritte in zehn Minuten dirigieren.“ Wenig später leitet Alondra das Simón Bolívar Orchester durch die Symponie Nr. 3. Die Erfahrung, die sie heute mit einer Mischung aus „unglaublich furchterregend“ und „schrecklich schön“ beschreibt, legt nicht nur den Grundstein für ihre fortwährende Hochachtung vor Sir Simon Rattle, sie festigt auch Alondras Begeisterung für Brahms. Die dritte Symphonie liegt ihr bis heute besonders am Herzen.

 

Zweifel und Verletzlichkeit eröffnen sehr interessante kreative Räume. Zweifel zuzulassen und anzunehmen erfordert sehr viel Reife. Und genau die sehe ich in der dritten Brahms-Symphonie – der gewagtesten, am seltensten aufgeführten und am meisten gefürchteten.

 

„Häufig weiß man nicht, wohin die Symphonie Nr. 3 im nächsten Moment führen wird. Nirgendwohin, könnte man meinen, aber das Gegenteil ist der Fall: Die Symphonie führt überallhin! Und exakt so ist es doch im Leben. Wir Menschen wissen oft weder, was wir wollen, noch, wer wir sind. Diese Ungewissheit auf dem Notenblatt einzufangen, das ewige Abwägen zwischen Dur und Moll, Stark und Schwach, Feminin und Maskulin bedarf so viel Mut! Diese Courage wird auch am Ende der Symphonie ganz deutlich. Anstatt auf einen großen Schlussapplaus hinzuwirken, klingt sie ganz leise aus. Diese Wendung ist sehr erwachsen und feinfühlig, bricht aber auch mit klassischen Erwartungshorizonten. Brahms hat sich hier der Tradition ganz bewusst widersetzt und in dieser Geste fühle ich mich ihm sehr verbunden. Ich bin keine Komponistin, aber in meinem Werdegang musste auch ich viele Entscheidungen treffen, in denen es um das Spannungsverhältnis zwischen meiner eigenen Intuition und den Erwartungen anderer ging. Dieses Ringen mit der Fremdwahrnehmung sehe ich in Brahms’ Werken häufig widergespiegelt.“

Überhaupt ist der anstehende Brahms-Zyklus für Alondra de la Parra auf künstlerischer Ebene eine sehr persönliche Angelegenheit. „Brahms stand im Zentrum der romantischen Aufführungspraxis und -tradition in Deutschland und Österreich. Zugleich ließ er sich stark von ungarischer Musik beeinflussen sowie von der Populärmusik seiner Zeit. In einer ähnlichen Grauzone verorte ich mich selbst: Die Musik meiner Heimat beinhaltet viele Volkstraditionen und -rhythmen, die mich seit jeher begleiten. Die rhythmische Integrität klassischer Stücke ist mir deshalb besonders wichtig. Manche Musiker*innen verbinden Brahms’ Werke mit einer bombastischen, germanischen Musik, und so empfinde ich sie eben überhaupt nicht. Ich sehe in Brahms eine zarte Seele, deren Appell sich aus überbordender Fantasie und einer Art furchtlosem, kindlichen Staunen speist. Deshalb möchte ich versuchen, das etwas festgefahrene Bild, das viele von Brahms haben, aufzubrechen. Auch wenn seine Musik allerorts häufig gespielt wird, möchte ich mich ihr nähern, als hätte ich noch nie von Brahms gehört und begegnete ihm zum allerersten Mal.“

Video-Reihe der Deutschen Welle

Die Konzerte des Zyklus’ werden von der Deutschen Welle mit acht Videos (zu jeder Symphonie eins) und einem Livestream auf Youtube DW Classical Music begleitet. Den Tutzinger Brahmstagen ist ein weiteres Video gewidmet. Das Vorhaben entstand aus der langjährigen Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Welle und Alondra de la Parra, die dort die Video-Reihe „Musica Maestra“ präsentiert. Weitere Informationen zur Ausstrahlung folgen in Kürze.

Kommende Termine

09.10.2022
Kirche St. Joseph, Tutzing
Alondra de la Parra, Münchner Symphoniker
Sinfonie Nr. 8 – Antonín Dvořák
Sinfonie Nr. 1 – Johannes Brahms

16.10.2022
Kirche St. Joseph, Tutzing
Alondra de la Parra, Münchner Symphoniker
Sinfonie Nr. 2 – Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 9 – Antonín Dvořák

23.10.2022
Kirche St. Joseph, Tutzing
Alondra de la Parra, Münchner Symphoniker
Sinfonie Nr. 3 – Johannes Brahms
Sinfonie Nr. 7 – Antonín Dvořák

30.10.2022
Kirche St. Joseph, Tutzing
Alondra de la Parra, Münchner Symphoniker
Sinfonie Nr. 6 – Antonín Dvořák
Sinfonie Nr. 4 – Johannes Brahms

 

Foto: David Ruano
Zur Übersicht