Neue Heimat: Enrique Mazzola über seinen Antritt als Music Director der Lyric Opera of Chicago
Seit dem 1. Juli 2021 is Enrique Mazzola Music Director der Lyric Opera of Chicago. Im Interview mit John von Rhein spricht er über Neuanfänge, Partitur-Purismus und Teamarbeit.
Nach Sir Andrew Davis und dem verstorbenen Bruno Bartoletti ist der in Spanien geborene und in Italien ausgebildete Dirigent Enrique Mazzola der dritte Music Director in der 67-jährigen Geschichte der Lyric Opera. Das Lyric-Publikum wurde erstmals auf ihn aufmerksam, als er in der Spielzeit 2016/17 Aufführungen von Donizettis Lucia di Lammermoor und 2017/18 von Bellinis I puritani leitete; auch eröffnete der Belcanto-Spezialist die Verdi-Reihe des Hauses in der Spielzeit 2019/20 mit Luisa Miller. Mazzolas erste Oper als Lyric Music Director ist nun Verdis Macbeth, die in einer neuen Inszenierung von Regisseur Sir David McVicar zur Aufführung gebracht wird. In der kommenden Saison dirigiert Mazzola außerdem Donizettis Das Elixier der Liebe und die Ensemble- und Chicago-Premiere von Missy Mazzolis Proving Up.
Mazzola stammt aus einer überaus musikalischen Familie und lernte von klein auf Geige und Klavier. Nach dem Umzug seiner Familie von Barcelona nach Mailand sang er im Kinderchor von La Scala, wo sein Vater als Korrepetitor arbeitete. Mazzola selbst sagt, sein Alltag an Italiens wichtigstem Opernhaus habe in ihm eine tiefe Liebe zur Oper verankert und ihn zu einem uomo di teatro gemacht: einem „Mann des Theaters“. Er ist Absolvent des Giuseppe-Verdi-Konservatoriums in den Fächern Komposition und Orchesterdirigat und ließ sich von Claudio Abbado und Carlos Kleiber, den legendären Maestros von La Scala, zur Karriere auf dem Podium inspirieren. Mazzola ist heute einer der gefragtesten Opern- und Symphonik-Dirigenten seiner Generation und blickt auf hochkarätige Ämter und Engagements u.a. Frankreich, Deutschland und Italien zurück.
Wie fühlt es sich an, neuestes Mitglied der Lyric-Opera-Familie zu werden?
Ich bin unheimlich froh, mit Chicago und diesem großartigen Opernhaus verbunden zu sein. Eigentlich hatte ich schon in der letzten Saison das Gefühl, aktiver Teil der Lyric Opera und der Stadt zu sein, als ich vier verschiedene Streaming-Programme erstellte, weil wir wegen der Pandemie keine Live-Aufführungen geben konnten. Jedes war eine anderen künstlerischen Instanz gewidmet: unserem Orchester, unserem Chor, dem Patrick G. and Shirley W. Ryan Opera Center und dann gab es noch eine Web-Serie, die auf den Musikstücken von Attila basierte und dazu diente, diesen Teil unseres Zyklus früher Verdi-Opern allen Widerständen zum Trotz in die Realität umzusetzen.
Ihr Vorgänger, Sir Andrew Davis, hat Ihnen ein Opernorchester hinterlassen, das auf höchstem Niveau spielt. Erzählen Sie ein bisschen mehr über die Beziehung, die Sie in den letzten Jahren zum Klangkörper und dem hervorragenden Chor der Lyric Opera aufgebaut haben.
Ich habe großartige Kollegen, sowohl im Orchester als auch im Chor, was mich sehr glücklich macht! Der Unterschied zwischen mir und anderen Dirigenten besteht im Grunde darin, dass ich eine sehr eigene Art habe, nach der musikalischen Wahrheit zu suchen, die in der Partitur liegt. Die Musiker*innen des Orchesters wissen, dass mein Ansatz sehr wahrhaftig und ehrlich, aber auch direkt ist und nicht den „alten Regeln“ [der Interpretation des italienischen Repertoires] folgt. Ich bin ein Revolutionär in dem Sinne, dass ich mich dafür einsetze, das herauszuholen, was wirklich in der Partitur steht, und nicht einfach nur Aufführungspraktiken nachzuspielen, die uns von Aufnahmen und aus dem letzten Jahrhundert überliefert wurden. Der Chor weiß, dass ich sehr anspruchsvoll bin, wenn es darum geht, die Bedeutung der Worte zu erforschen und zu vermitteln, insbesondere bei Verdi; in einer Probe habe ich mich anderthalb Stunden lang ausschließlich auf den Text konzentriert. Das würde „Dirigent der alten Tradition“ nicht machen! Manchmal können Traditionen, die später im neunzehnten Jahrhundert und in der Zeit des Verismo aufkamen, eine „reine“ Lesart der italienischen romantischen Oper verfälschen.
Macbeth war für Verdis Entwicklung als Bühnenkomponist von entscheidender Bedeutung. Die neue Produktion, die Sie hier mit Sir David Vicar präsentieren, basiert auf der überarbeiteten Fassung, die Verdi 1865 für die Pariser Oper erstellt hat, und wird – mit Ausnahme der Ballettmusik – komplett so übernommen. Wie bewerten Sie die Oper von einem musikalischen und dramaturgischen Standpunkt aus?
Das Opernpublikum manchmal, dass ein großer Teil des Macbeth von 1865 eigentlich ein früher Verdi ist. Die überarbeitete Musik macht vielleicht 40 Prozent der Oper aus, aber die restlichen 60 Prozent stammen aus dem Original von 1847. Zwei Jahre liegen zwischen der Komposition der Originalfassung von Macbeth und Luisa Miller (1849), und das waren entscheidende Jahre in Verdis stilistischer Entwicklung. Der Macbeth von 1847 klingt moderner und anspruchsvoller als Luisa Miller. Ich bin sicher, dass die gespenstische, furchterregende Atmosphäre von Macbeth Verdis tiefste Phantasie beflügelte. Bereits 1847 verwendete er kompositorische Mittel wie chromatische Tonleitern, die fortschrittlicher waren als alles andere, was er zu dieser Zeit schrieb. Denken Sie zum Beispiel daran, wie er die Piccoloflöte und die Klarinette in ihren tiefsten Lagen einsetzt, um eine dunkle und unheimliche Wirkung zu erzielen. Verdis Orchesterkompositionen sprechen das Publikum direkt an, sei es, um Schrecken, Terror, Triumph oder Rache zu vermitteln.
Würden Sie zustimmen, dass es sich bei Macbeth eher um eine „Dirigenten-“ als eine „Sängeroper“ handelt?
Nein. Ich glaube nicht, dass es so etwas wie „Dirigentenopern“ gibt. Ich bin der festen Überzeugung, dass man als Dirigent in erster Linie eine Rolle innerhalb eines größeren künstlerischen Teams einnimmt, und nach diesem Leitsatz arbeite ich mit meinen Sänger*innen, dem Orchester und dem Chor sowie in enger Partnerschaft mit dem Regisseur und dem Produktionsteam zusammen.
Ist der neue Macbeth Ihr erstes gemeinsames Projekt mit Sir Davic McVicar?
Ja. Wir sind uns schon oft bei einem Abendessen in Glyndebourne begegnet, haben aber noch nie zusammen gearbeitet. Er hat einen fantastischen Macbeth für uns geschaffen; die bekannte Geschichte wird aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Es gibt keinen besseren Regisseur als David [der in Glasgow, Schottland, geboren wurde], um die seltsame, manchmal furchterregende schottische Welt von Shakespeare neu aufleben zu lassen, gefiltert durch das Genie von Verdi.
Haben Sie bereits einen festen Wohnsitz in Chicago gefunden oder leben Sie immer noch aus Koffern?
Bitte keine Koffer mehr! Nach meiner Ernennung zum Music Director entschied ich sofort, Chicago zu meiner neuen Heimat zu machen – meiner neuen Stadt. Ich bin davon überzeugt, dass es bei der Arbeit eines Music Directors nicht nur um die künstlerische Rolle geht, sondern auch darum, alle Einflüsse, Gefühle und Informationen mit an Bord zu nehmen, die von der Stadt ausgehen, in der man sich befindet. Ich habe das Gefühl, dass Chicago bereits ein richtiges Zuhause für mich ist. Das Lyric Opera House ist nur eine halbe Stunde Fußweg von meinem Wohnort entfernt. Ich habe angefangen, die CTA-Busse zu nehmen. Ich bin sehr europäisch, und wir Europäer*innen benutzen immer die öffentlichen Verkehrsmittel.
Ich lebe sehr gerne hier in der Stadt. Mir gefällt auch, dass das Lyric Opera House für alle offen ist. Wir von der Lyric Opera wollen unsere Kunst allen zugänglich machen. Das ist wirklich meine große kulturelle Mission.
Das englische Original des Interviews finden Sie hier.
Foto: Jean-Baptiste Millot